The trouble is that once you see it, you can't unsee it. And once you've seen it, keeping quiet, saying nothing, becomes as political an act as speaking out. - Arundhati Roy

Augenzeugenbericht: „Rote Flora bleibt unverträglich“

Posted: Dezember 27th, 2013 | Author: | Filed under: Autonome Räume, Deutschland, Hamburg, Rote Flora | Tags: , , , , , | Kommentare deaktiviert für Augenzeugenbericht: „Rote Flora bleibt unverträglich“

Ein Versuch, das Erlebte zu verarbeiten und ein paar Ereignisse zu beleuchten, die bisher noch nicht abgedeckt wurden.

#HH2112: Angriff der Aufstandsbekämpfungs-Einheiten

14.00 Uhr. Tausende Menschen versammeln sich vor der Roten Flora und lauschen den beiden guten Redebeiträgen, in denen die Situation der Geflüchteten, die skandalöse Politik und der dahintersteckende Rassismus beleuchtet wird und Plädoyers für fortgesetzten antirassistischen Widerstand dagegen gegeben wurden. Trotz eines leichten Regens und nicht ganz so warmen Temperaturen ist die Stimmung entspannt, man freut sich darauf, dass es gleich endlich losgeht und man ein bisschen Bewegung bekommt. Dann treffe ich eine gute Freundin, die meint, die Demo werde das Viertel nicht verlassen, die Polizei werde eskalieren. Deutliches Zeichen dafür sei, dass außerhalb des Schanzenviertels keine Polizeiabsperrungen und keinerlei sonstige der sonst üblichen Vorkehrungen getroffen worden waren. Ich schlage die Warnung in den Wind, da ich denke, wie will man eine so große Demonstration mit diesem Spektrum einfach aufhalten?

15.00 Uhr. Die Redebeiträge sind beendet. Es wird vom ersten Lautsprecherwagen durchgegeben, dass die Route wohl nochmal geändert wurde, man dürfe die Innenstadt nicht betreten. Es soll erst einmal zum Punkt der ersten Zwischenkundgebung gehen und währenddessen weiter mit der Polizei verhandelt werden. Ein Grummeln geht dabei bereits durch die Menge, aber immerhin kann die Demo jetzt beginnen. Die Protestzug formiert sich und der Lautsprecherwagen setzt sich in Bewegung.

15.05 Uhr. Der Demonstrationszug hat sich noch keine 10 Meter fortbewegt, da wird durchgesagt, dass der Weg durch die Polizei blockiert sei. Das Lautsprecherwagen-Team fordert die Polizei auf, den Weg frei zu geben. Dann feuern unvermittelt zwei Wasserwerfer auf die vorderen Reihen.

Die Ungeheuerlichkeit dieses unprovozierten Frontalangriffs auf die Demonstration lässt mich für einige Minuten sprachlos. Ein Gefühl der Wut und der Trauer breitet sich in mir aus. Ich bin fassungslos. Schon wieder wird eine angemeldete und bis dahin friedliche Demonstration ohne Grund und Vorwarnung widerrechtlich gestoppt und brutal angegriffen. Wut darüber, dass man uns so einfach und so dreist unserer Grundrechte berauben kann. Noch immer kann ich es kaum fassen, aber ich sehe die Strahlen der Wasserwerfer, die Unsicherheit und ein Anflug von Panik bei manchen Demo-Teilnehmern. In mir auch Trauer, Trauer über den Zustand unserer Gesellschaft, den sich entfaltenden Polizeistaat und die nun nicht mehr existente Versammlungsfreiheit.

Vor meinen Augen entwickelt sich binnen Sekunden ein Bürgerkriegszenario. Es fliegen Feuerwerkskörper, Steine und Flaschen in die grobe Richtung der Polizeikräfte. Dann höre ich, wie jemand schreit, dass wir auch von Stoßtrupps angegriffen werden. Wir befinden uns in geordnetem Rückzug, untergehakt geht es Meter für Meter rückwärts. Dann sehe ich sie auch schon. Greiftrupps von behelmten, komplett in schwarz gekleideten und voll gepanzerten Polizisten. Mir wird klar, mit wem wir es hier zu tun haben: Dies sind keine normalen Bereitschaftspolizisten, dies sind nicht einmal die BFE-Einheiten, dies ist die bayrische USK-Einheit, die für Aufstandsbekämpfung trainiert wurden. Ohne Rücksicht auf Verluste wird Gebrauch von Reizgas und Schlagstöcken gemacht. Es geht hin und her, drunter und drüber. Der Genosse neben mir, dessen Arm unter meinem gehakt ist, zittert wie Espenlaub. Unsere Gruppe hält zusammen, die Ketten halten größtenteils, von uns geht keine Gewalt aus. Nicht so im Falle von ein bis zweihundert Werfern, die alles was sie in die Finger kriegen können schleudern. Ich verübele es Ihnen nicht, alles was hilft, die Stoßtrupps zurückzudrängen, kann uns vor Schlimmerem bewahren. Dennoch haben wir in diesem Moment medial quasi schon verloren. Ich sehe die Schlagzeilen schon vor mir “Krawalle bei linksautonomer Demo”, ” Tausende vermummte Randalierer im Schanzenviertel”, etc. pp.. Ich werde noch trauriger.

Die Lage wird immer unübersichtlicher. Mittlerweile sind wir direkt vor der Roten Flora, gut fünfzig Meter entfernt von dort wo ich stand als die Demo beginnen sollte. Für jeden Meter, den wir nach vorne gut gemacht haben, wurden wir anschließend um zehn Meter zurückgedrängt. Wir versuchen uns Raum zu verschaffen über die Juliusstraße. Ein Angriff der schwarzen Einheit treibt uns weiter in die Straße, es wird eng. Weitab der Pressefotografen wird vom Stoßtrupp nun brutal drauf geprügelt, Schlagstöcke werden auf Augenhöhe benutzt. Es geht immer weiter rückwärts, Menschen stolpern über Fahrräder und Fahrradständer, einige sind der Panik nahe. Auch die auf dem Boden liegenden werden von den Schlagstöcken nicht verschont. Der Mensch neben mir wird verletzt. Ich selbst bleibe verschont, der Angriff hatte anscheinend den Zweck, uns in der Straße zusammenzudrängen, an allen Enden stehen Spaliere. Wir sind gekesselt. Eine Stunde lang können wir nur da stehen. Anwohner*innen reichen Wasser und Tee aus den Fenstern, einer wirft Bombons in die Menge und erntet Applaus und Dankbarkeit. Was vor der Flora passiert, bekommen wir nicht mehr mit.

16.30 Uhr. Als wir endlich wieder freikommen setzt sich eine spontane Demonstration in die Gegenrichtung fort, angeführt von dem Lautsprecherwagen des “Recht auf Stadt” Blocks. Da vorne und hinten auch Behelmte stehen, ist es eigentlich nur ein großer mobiler Kessel. Nach 100 Metern ist auch wieder Schluss. Vom Lautsprecherwagen wird frustriert verkündet, dass die Demo nun aufgelöst werde, es mache so keinen Sinn. Viele Menschen setzen sich nun in Bewegung Richtung Innenstadt oder erholen sich im Centro Sociale, so wie wir.

18.00 Uhr. Wir sind auf dem Weg in die Innenstadt, welche von den Behörden zu einer Gefahrenzone erklärt wurde. Das bedeutet schlicht, dass sich nicht mehr auf seine Grundrechte berufen kann und man völlig ohne Grund angehalten, die Personalien aufgenommen und zur Umkehr gezwungen werden kann. Oder gleich mitgenommen. Wer weiß das schon so genau.

Ein paar Jugendliche haben zwei Hamburger Gitter auf den Ring gestellt. Wir lächeln amüsiert und gehen weiter. Plötzlich bremst ein schwarzer Bulli mit getönten Scheiben neben uns, die Schiebetür geht auf und sechs schwarz gekleidete Einsatzpolizisten springen heraus, rennen auf uns zu und drücken uns in eine Hecke. Man verdächtigt uns der “Barrikaden” in Form der zwei Gitter. Sie nehmen unsere Personalien auf und halten uns fest. Eine Abgeordnete kommt zufällig vorbei und verlangt den Grund für das Festhalten zu erfahren, die Bullen behandeln sie schroff und geben ihr keine Auskunft. Sie ruft den Ermittlungsausschuss an. Die Bullen wollen, dass wir die Gitter von der Straße nehmen, was wir verweigern. Man wolle uns anzeigen wegen Nötigung und uns die Kosten der Entfernung in Rechnung stellen. Wir bekommen einen mündlichen Platzverweis, auf einer Karte ist der gesamte Innenstadt-Bereich rot umkreist. Ein weiteres Indiz dafür, dass die Summe der Maßnahmen den einzigen Sinn und Zweck hatten, dass kein Demonstrant dass Stadtbild in der Innenstadt stört und die Menschen im Konsumrausch oder Glühweinseligkeit stören. Wir gehen zurück ins Centro Sociale.

20.15 Uhr. Weitere Aktionen schieden für mich durch den Platzverweis aus. Ich warte an einem vereinbarten Treffpunkt in der Nähe der Roten Flora auf meine Mitfahrgelegenheit, als sich ein weiteres entsetzliches Schauspiel vor meinen Augen entfaltet. Von rechts und links fährt schweres Gerät auf. Zwei Räumpanzer, vier Wasserwerfer und mehrere Dutzend Mannschaftswagen. Einheiten postieren sich dazwischen. Es sind wieder die Prügel-Einheiten. Sie biegen ein Richtung Flora und rücken langsam vor. Die Wasserwerfer beginnen aus allen Rohren zu feuern. Ich schüttele fassungslos den Kopf während ich hilflos zusehen muss, wie der gesamte Bereich vor der Flora brutal geräumt wird. Welchen Grund das Ganze hatte, kann keiner erkennen. Viel erkennen kann ich von meiner Position aus leider nicht, dazu ist es mittlerweile sehr dunkel, ich möchte aber auch nicht meine Mitfahrgelegenheit verpassen, also bleibe ich auf dem Fleck. Mein Zorn erreicht ungeahnte Ausmaße, als ich zwei vermeintliche Demo-Teilnehmer auf den hintersten Polizeiwagen zulaufen sehe, sie erzählen den Polizisten irgendetwas, rennen noch zu einem zweiten Wagen, geben dort auch irgendwelche Informationen weiter und rennen dann wieder in die Menschenmenge vor der Roten Flora. Dass viele agent provocateur eingesetzt werden, war klar, auch wenn das eine illegale Polizeitaktik ist. Dies mit ansehen zu müssen, ist aber noch einmal etwas anderes. Meine Kamera hat leider nicht ausgereicht, die beiden zu fotografieren, um andere zu warnen. Wahrscheinlich haben Sie die Infos über die spontanen Solidaritäts-Demonstrationen an die Polizei weitergegeben und so die anderen Aktionen auch noch kompromittiert. Der Angriff dauert dann nicht mehr lange, im Schritttempo fahren die Wagen rückwärts und verschwinden so, wie sie gekommen sind.

21.00 Uhr. Auf dem Rückweg lesen wir die ersten Presseberichte, und mein Anfangsverdacht erhärtet sich. Es wird nur von verletzten Bullen, von Randalierern und Krawallen gesprochen. Kein Wort darüber, dass die Demonstration einfach so gestoppt wurde und die Wasserwerfer grundlos anfingen zu feuern. Kein Wort über die vielen verletzten Demonstranten. Bald auch kein Wort mehr über die Forderungen und die Thematik. Heute indes verändert sich die Darstellung dann doch etwas, genug Journalisten haben wohl doch noch ein Gewissen und veröffentlichen ansatzweise den wirklichen Ablauf. Unten stehend eine Sammlung von Links zu Artikeln, die meiner Meinung nach das Geschehene am Besten wiedergeben sowie zu weiteren Augenzeugenberichten.

Fazit

Bereits bei Blockupy 2013 wurde die neue Strategie der Politik im Umgang mit systemkritischen Demonstrationen deutlich: Erst gar nicht loslaufen lassen und durch sofortige brutale Gewalt auf Abschreckung und Einschüchterung zu setzten. Man will dem Protest so wohl das Wasser abgraben, so dass nur noch erfahrene Straßenkämpfer sich noch auf Demos trauen und dann wieder Vorwände liefern für weitere Polizeigewalt. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ist das Papier nicht mehr wert, auf dem es einst schriftlich festgehalten wurde. Konsequenzen haben Politik und Polizei keine zu befürchten, und man hat ja auch die Medien, deren auflagenstärkste Vertreter sich zu willfährigen Erfüllungsgehilfen des Polizeistaats machen. Die Kommentatoren im Internet fordern hundertfach offen das Töten der Dissidenten. Ein Klima entsteht in diesem Land, das nach Faschismus riecht. Was sie nicht raffen ist, dass wir an dem Tag in Hamburg alle verloren haben. Die Rest-Demokratie, die Stadt Hamburg, die Bevölkerung, die Demonstranten, die Geflüchteten, alle. Einzig vielleicht die Flora konnte deutlich machen, dass sie mobilisierungsfähig ist und eine Räumung nicht so einfach und widerstandslos durchführbar sein wird.

Eins wurde jedoch noch einmal deutlich: Egal wie viele Menschen wir zusammenkratzen, egal wie gut wir organisiert und vorbereitet sind, wir können nicht gewinnen. Momentan sind sie mehrere Schritte voraus. Sie haben Einheiten zur Aufstandsbekämpfung, ohne dass es Aufstände gibt. Sie haben so viel schweres Gerät, so viel moderne Technik und so viele kompromisslose, gewissenlose und brutale Erfüllungsgehilfen, dass sie alles niederschlagen können was dissidente Bevölkerungsteile aufbringen könnten. Man wird sich zusammensetzen und beratschlagen müssen, wie wir unsere Strategien und Taktiken den Gegebenheiten anpassen. Wenn unsere angemeldeten und genehmigten Demonstrationen so behandelt werden, dann sagen wir am besten nächstes Mal nicht vorher Bescheid. Wir wären doch schön blöd! Auch bin ich dafür, verstärkt auch Vorkehrungen zum Selbstschutz zu treffen, wie z. B. die Rückkehr der guten alten Motorradhelme, dazu Schilde, Schienbeinschoner und andere Protektoren.


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